Vereina

Angelica Schorre

Vereina

Tobias. Liebster. Mein Lieb.

Wo du bist, weiss ich nicht. Ich bin in einem Schweizer Kurort. Spontanentscheid nach deinem Packen, deiner Umarmung, deinem «Ich muss etwas erledigen, vertrau mir», deinem Verschwinden. Da gibt es doch die Geschichten, in denen Männer schnell eine Schachtel Zigaretten holen wollen und dann nicht wiederkommen.

Du bist fort. Und ich soll dir vertrauen. So sieht‘s aus.

Ich kenne deine Beweggründe nicht. Der Fantasie sind natürlich keine Grenzen gesetzt. Der Realität, so hoffe ich, schon. Erster Gedanke: andere Frau. Zweiter Ge­danke: in ein Verbrechen verwickelt. Dritter Gedanke: beides kombiniert. Vierter und dringlichster Gedanke: Ich muss hier raus. Raus aus dem Haus, in dem fast alles ein «Wir» ist. Ich warte nicht wie Penelope auf Odysseus, Teppiche webend, Freier vertrös­tend. Take care: Da draussen gibt’s Zyklopen, Zirzen und… Ich muss selber aufpassen. Verwirrung und Angst vor dem Alleinsein. Ich versuche, auf meine Art sachlich zu bleiben.

Schreibend Nähe gewinnen. Was soll ich sonst tun? Weinen, Geschirr zerschlagen? Unsere späte Liebe hat, nein, ich schreib nicht hatte, etwas von einem schönen Herbst­tag: blaue Schatten, Rebberge, Begehren, Begehren, Begehren. Und Heiterkeit.

Ich bin also hier in Bad Zurzach. Wasser hat mich immer schon getröstet, mich in Zutrauen gewiegt. Ich mag zudem – da von dir jetzt ausgegrenzt – das Behagliche eines überschaubaren Ortes. Eines alten Ortes. Geschichten. Verwinkeltes. Und wenn man den Schatten einer Fernsehantenne im Hausgiebel für eine Sonnenuhr hält – was macht das schon? Bad Zurzach liegt hinter sieben Bergen in einem Talkessel. Vom Schwarzwald aus liegt der Ort lieblich und offen auf der anderen Seite des Rheins. Jaja, alte Römersiedlung, Weinberge, kein Rheingold gottseidank.

Erinnerst du dich an einen unserer ersten Spaziergänge? In die Verenaschlucht bei Solothurn? Wasseramseln und Dämmerung überm Bächlein? Lichtgezauber und Zau­berkuss ohne Ende, ohne Ende? Und hier in Bad Zurzach war die letzte Station der Heiligen Verena. Krüglein und Kamm, Marketenderin, thebäische Legion… Heilige und alte Quellgöttin. Ich wollte heute als erstes zum Kirchlibuck laufen, die alte Kapel­le der Verena im Kastell besuchen. Ich bin auf dem Rheinwegli gelandet. Autobrücke über mir. Die Figur der Verena in der Mitte der Brücke sah ich. Doch die Überreste des Kastells waren wie verschwunden. Ja, ich hätte wieder hinauflaufen müssen. Ich moch­te nicht. Ich beschloss dann, meinen Aufenthalt hier von einem Ort namens Him­melrych «offiziell» zu beginnen. Spruchzauber: Himmelrych. Ich bin das Rheinwegli entlanggelaufen. Der Fluss ganz himmelblau, der Uferweg im Schatten, goldene Son­nenkleckse. Ich erlaubte mir, auf jeder vierten Bank eine Pause zu machen. Schwach.

«Vertraue mir.» Und umgekehrt? Wenn du mir vertraust, könntest du mir sagen, wo du dich aufhältst. Du bist Historiker. Fachgebiet Alteuropa. Kein Agent. Oder? Wie


gut kennt man einander? Geheimnisse beleben die Beziehung – oder was sonst so in Ratgebern steht. Keine Ahnung. Ich bin Malerin. Keine Psychologin.

Ich weiss nicht, wo du bist, ob es dir gut geht. Jedenfalls bin ich am «Himmel­rych» vorbeigelaufen, bei irgendwelchen Sportplätzen gelandet. Wieder zurück, in den Schlosspark. Ein junges Pärchen in schicken Kleidern spielte dort mit einem dieser Mini-Hunde, die nicht grösser als eine Ratte sind. Sie spielten an einer Skulptur zweier ineinander gekugelter Schlafender vorbei. Schlafen die Jünger im Garten? Schlafen die Liebenden? Heilschlaf? Soll ich uns heilschlafen? Sollen wir mit rattengrossen Hunden spielen? Ach, mein Lieb.

Zusammenfassung: Kapelle der Verena und Himmelrych – anscheinend keine gute Ausgangslage für mich. Ich beschloss, in das Einkaufszentrum am Kurpark zu gehen. Alltäglichkeiten. Lesebrille in der dortigen Apotheke gekauft. Brot und Wein, Tee und Käse beim Grossisten. Expedition durch den Kleiderladen mit den Ständern mit Spezialangeboten. Alles normal. Preise wie zu Hause. Ich hatte ein Sweatshirt für dich in der Hand, hängte es zurück.

Durch den Park wieder in Richtung Hauptstrasse. Ein grosser Teich mit Kois. Ich schaute ihnen einen Moment lang zu. Diese abenteuerlich gefleckten Karpfen sollen ein Symbol der Stärke sein. Stärke im Karpfenteich – ich weiss nicht. Bleibt mir etwas anderes übrig? Tapfer sein? Verdammt, ich könnte mich in den Teich stürzen, mit Kois um mich werfen… Verdammt, verdammt, du hast meine Handynummer. Ist eine SMS zu viel verlangt?

Im Café im Park bestellte ich einen schwarzen Tee. Der das Café umgebende Rasen wurde mit einem Park Pro 20 irgendwas gemäht. Ein Mann kreiste dabei ziemlich ausgelassen auf diesem Rasenmäher herum und macht ein ernstes Gesicht. Ins Solbad mochte ich noch nicht. Ich weiss nicht, wo du bist. Du weisst nicht, wo ich bin. Nein, diese sanfte Erotik warmen Wassers – der setze ich mich jetzt nicht aus. Weisst du noch? Diese erste, scheinbar zufällige Berührung im Whirlpool? Der sanfte Sog? Das nicht mehr Ausweichenwollen? Und jetzt? Berühren wir uns jetzt zufällig in Gedan­ken? Ich spüre nichts. Nur manchmal ahne ich einen nicht unfreundlichen Schatten hinter mir. «Du spinnst», sagst du. «Nein», sage ich. Und dabei bleibt’s erst mal. Hier ist mein Reich, in dem deine Vernunft nichts zu sagen hat. Auch wenn ich nur Lesebrille und Chips kaufe. Und mit Karpfen um mich werfe. Deine Vernunft hat uns getrennt. Sicher nicht meine Fantasie. Ich mag keine Karpfen malen. Das konnten die chinesi­schen Tuschmaler viel besser: Ohne Aggression und Hoffnung. Will ich das?

Warum denke ich immer an unsere «Anfänge» zurück? Warum durchforste ich nicht die letzten Wochen nach Anzeichen, nach Indizien für dein Verschwinden? Weil ich nicht will. Ich versuche, dich auszublenden. Du meinst, das kann ich gar nicht? Ich würde dir ja schreiben… Du bist nicht mehr mein Liebster, du bist nicht mehr mein Lieb. Du bist irgendein Historiker mit dem Hang zur Arroganz.

Heute Nacht bin ich plötzlich aufgewacht und dachte, einen Schatten in der Zimme­recke zu sehen, der sich langsam auflöste. Dann meinte ich, dass es das ständige «He, Alter» der Jugendlichen bei der Tankstelle gewesen sein müsste, das mich geweckt hat­te. Als ich mich aus dem Fenster zur Schwertgasse hin lehnte, sah ich einen Elefanten aus dem Brunnen trinken. Ein Pfau balancierte den Rand entlang; ein Schwan schaute etwas indigniert ins Wasser.

«Trost, Trost, Trost», sagte der Elefant zwischen zwei tiefen Schlucken gar nicht leise. Oder sagte er «Prost»?

«Sollen wir ihr sagen, dass alles ganz harmlos ist?» fragte der Pfau und begutachtete sein Krönchen im Wasserspiegel.

«Harmlos?» kommentierte der Schwan, «das nennst du harmlos?»

Der Pfau wippte unschlüssig.

«Seltsame Nacht», sagte der Elefant, «kommt, lasst uns zurück in unsere Häuser gehen.»

«Seltsame Nacht», dachte ich nicht weiter erstaunt. In Bad Zurzach hat fast jedes Haus einen Namen. Wenn ich ein Haus wäre, dann würde ich «Zum trägen Wiesel» oder «Zum fliegenden Zebra» heissen. Ich schloss das Fenster und schlief erstaunlich gut.

Dieses dunkle, exotische Gesicht mit den vollen Lippen, offene Haare wie eine Nixe, eine höchst eigenwillige Heilige… Verena in der Krypta des Münsters. Ein alter Mann kam herein, legte ihr eine weisse Rose auf die Hände, setzte sich und schien zu warten. Kein Beten, ein Hören. Die Quelle unterm Schachtgitter scheint verstummt. Stille. Hatte hier Vereina-Verena ihren Krug mit Wasser gefüllt? Später dann an ihrer Stelle die von Messetagen erschöpften Frauen, die vom Tanz erhitzten Mädchen? Der Mann stand langsam auf, trat ans Gitter, betrachtete das andeutungsvoll lächelnde Gesicht der Verena: So viel Zärtlichkeit und Liebe in seinem Blick. Ich schloss meine zudring­lichen Augen. Warum ich zu zittern begann, weiss ich nicht. Ach, Tobias.

Ich traf den alten Mann wieder. Auf dem alten Friedhof beim Münster. Dort, wo die Stühle warten. Herbstlicht, Zwielicht in den Räumen zwischen den Schatten. Ich liess einen Stuhl zwischen ihm und mir aus, setzte mich.

«Vereina war eine Wilde, Echte», sagte er und schwieg.

Ich nickte.

«Ach so», sagte er, «waren Sie schon im Bad?»

Ich schüttelte den Kopf.

«Sie sehen verlassen aus.»

Ich zuckte mit den Schultern. Der Mann stand auf, wühlte in seinen Hosentaschen und kramte ein paar Kastanien hervor und warf sie mir zu.

«Ich bin kein Rattenhündchen», sagte ich und stand auf.

«Entschuldigen Sie, ich wollte nur Ihre Bewegung sehen, wenn Sie eine Kastanie auffangen», sagte er, erhob sich und zog seinen nicht vorhandenen Hut.

«Vereina», sagte ich und setzte mich.

«Ja», sagte er.

Und wir schwiegen. Hörten Laubgekraschel. Sonst nichts.

«Ihr Mund», sagte ich und schob Blätterfetzen auf dem Tisch zu Mustern.

«Ja», sagte er, «ja.»

Er legte seine Hand überraschend schwer auf meine Schulter und ging.

Krypta. Nachtaktive Häusertiere. Ein Versprechen. Ich malte den Elefanten, den Pfau, den Schwan, den alten Mann, versuchte ein Lächeln – meine Freunde. Tobias, bleib noch etwas fern.

Ein Geschäft an der Hauptstrasse führt meine Lieblingsjeansmarke. Hinein, ange­zogen, gekauft. Fünf Minuten. Ich wollte kein Lachsbrötchen, keinen Prosecco. Ich wollte an der lachenden jungen Frau auf der Werbung vorbei ins Heilbad. Heilschlafen geht wohl nicht. Heilbaden vielleicht. Ich heilbade auch meine Seele. Oder was auch immer da schrammt und traurig ist. Der Mann ist auf und davon. Fort ist er. Greift in Haar, das anmutig über Brüsten liegt; liegt im Koma… Was heisst heil? Fern von Unheil? Ganz, rund? Haarrisse erlaubt? Ich habe eine neue Jeans.

Das Wasser war wunderbar. Der Schwan flog sirrend und gross über die Becken. Er­schrockene Blicke folgten ihm. Heiterkeit der Lichtkringel, der Schaumbläschen – sie erreichte mich nicht, prallte auf der Haut ab, die welk schien. Ich weichte meine Seele ein. Gründlich. Und dachte: Elefant, Pfau, Mann.

Natürlich blieb ich zu lange im Wasser. Leicht schwindlig setzte ich mich dann vor den Spiegel und wollte mich kämmen. Unschärfe. Da griff eine Hand, nicht grösser als die eines Kindes, nach dem Kamm. Es ziepte ab und zu, aber die Bewegungen wurden dann gleichmässig, sehr ruhig, sehr still. Ich dachte nichts mehr, spürte nichts mehr, sah mich nicht mehr im Spiegel. Sub specie aeternitatis.

Einsame, Zweisame auf Bänken, Kinder spielten, Wasserspielfächer – auf und nieder wie Palmblätter. Durch den Park lief ich in die Wohnung in der Schwertgasse zurück. Ein Blick ins Sportgeschäft. Währungsrabatt. Und dann später, bei einem Glas Wein auf der Veranda zum Innenhof, dein Anruf. «Wo bist du», fragtest du.

«Nicht zu Hause», sagte ich, und um mich herum sassen die Tiere, der alte Mann. Ich spürte die kleine Hand mit dem Kamm in meinem Haar. Und dachte: Ich frage dich nicht, wo du bist, wo du warst.

«Ich war an einem Kongress mit dem Thema ‚Alte Quellheiligtümer im Spiegel des Christentums‘. Sehr langweilig. Sehr an den Haaren herbeigezogen.»

«Hm.»

«Und ich habe Elena wieder getroffen. Es ist vorbei.»

Elena, dachte ich, welche Elena?

«Es ist vorbei, sagte ich», sagtest du.

«Okay», sagte ich.

«Ausserdem habe ich eine sehr schmerzhafte Prellung im unteren Rücken. Schläge­rei mit einem alten Mann und komischen Tieren.»

«Ach.»

«Also: Morgen zu Hause?»

«Nein.»

«Nein?»

«Wir können uns in zwei, drei Wochen in der Verenaschlucht treffen. Ich schicke vorher eine SMS.»

«Bist du krank?»

«Nein. Ich bin einsamer geworden. Und glücklicher», sagte ich und schaltete das Handy aus.

Tobias, mein Lieb. Vereina.

Angelica Schorre…

… arbeitet als Journalistin, Autorin und Malerin. Sie schreibt Artikel, Reportagen und Kurzgeschichten für verschiedene Zeitschriften und Zeitungen. 2003 erschien das, zusammen mit der nun leider verstorbenen Margrit Staub-Hadorn verfasste, Buch «Anna und Johanna – eine Art Liebesbriefe» (Cosmos Verlag). Verschiedene Ausstel­lungen, u.a. im Schlösschen Vorderbleichenberg, Biberist. Angelica Schorre lebt in Oberdorf in der Nähe von Solothurn.

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