Bahnhofskinder und eine Kuh

Angelica Schorre
Mai 2004

Veröffentlicht 2005 auf Hindi in zwei Publikationen des indischen Germanisten Amrit Mehta in Neu Delhi. http://www.saarsansaar.com.

Eine Kuh trottet den Bahnsteig entlang. In ihrer trägen Zielgerichtetheit unterscheidet sie sich von den Wartenden, die zum Teil auf dem Boden liegen und schlafen. Müde der endlosen Wiederholungen der weiblichen Stimme, die Zugseinfahrten und Verspätungen durchgibt, beschwörend, verhalten gut gelaunt und kaum verständlich. 23 Uhr zeigt die Uhr auf dem Mughalsarai Station bei Varanasi. Der Maghad Express, der in der Nähe von Agra am nächsten Morgen halten soll, hat eine Stunde Verspätung. „Madam, Madam“, fleht ein helles Stimmchen, das keinem verkrüppeltem Kind gehört, sondern einem lediglich ungewaschenen, das deutend die Hand zum Mund führt. In Sachen Müsliriegel kann man noch aus dem Vollen schöpfen. Hoffentlich verträgt das Kind so etwas. Der Blick auf Krüppel und Bettler bleibt nicht mehr hängen, ist stumpf geworden. Eine Ratte verfolgt eifrig eine Spur, Hunde schnüffeln heran. Ein kurzer Windstoss lässt aufatmen. Zwei Polizisten schlendern vorbei. Das Kind dreht sich ihnen auf dem Boden sitzend aufmerksam-trotzig zu. Es wird nicht beachtet, gehört wie Kühe, Hunde, Ratten und erschöpft Schlafenden zum Inventar des Bahnhofs.
„Madam, Madam.“
Piss off, möchte man am liebsten sagen.
Ein zweites Kind schläft auf einem leeren Gepäckwagen, ein drittes unter diesem. Ein viertes trollt heran.
„Was ist schlimmer: Die Polizei oder die Hunde?“
„Die Polizei. Sie haben Knüppel.“
Er ist sieben Jahre alt und wohnt seit zwei Jahren mit anderen Kindern auf diesem Bahnhof. Der Vater gestorben. Seine Mutter und Brüder hätten ihn geschlagen. Da sei er abgehauen. Er grinst einen Mann an, macht eine obszöne Geste, der Mann geht weiter, das Kind zuckt die Schultern. Kriecht unter die Steinbank, auf der man sitzt, und holt leere Plastikflaschen hervor. Diese füllt er mit Wasser und verkauft sie für fünf Rupien. Sein Blick sagt, dass er das ganze Business im Griff hat. Er zeigt einen Reisigbesen. Mehrere Kinder haben einen. Mit diesen springen sie auf einfahrende Züge, putzen wieselflink die Abteile, kassieren ein paar Rupien, springen aus dem fahrenden Zug, was nicht immer gut geht. Geraten sie nicht unter Zugsräder, dann warten Prostitution und Kriminalität.
„Was machst du in zwei Jahren?“
Das Kind lacht über diese Frage, zuckt die Schultern.
„Keine Ahnung.“ Kurze Pause. Dann: „Madam, Madam.“
Ein anderes Kind fängt an, im Rhythmus mit zwei Tonscherben zu klappern. Fordernder Blick. Sie nerven, die Kinder.
Die Mutter hatte ihn gebeten, den Vater um Geld zu fragen. Der Vater schlug dann beide. Die Mutter übergoss sich mit Benzin und zündete sich an. Der Vater nahm eine zweite Frau, es gab immer Krach. Schliesslich warf ihn der Vater aus dem Haus. Seit fünf Jahren lebt er auf dem Bahnhof. Ob die Geschichte stimmt? Spielt es eine Rolle?
Die Uhr zeigt 00.20 Uhr. Keiner weiss, was mit dem Zug ist.
„Madam, Madam, ein Güterzug ist entgleist.“
Ein Kind wickelt sich eine Plastikschlange um den Hals.
Die Kuh, heilig oder unheilig, trottet wie auf dem Rückweg vorbei.
Die Schlange um den Hals des Jungen ist ein Stück Schlauchisolierung.
Der Windstoss ist heiss und bringt eine Wolke Uringestank mit. Ratten wirken sehr busy.
Ein Kind zieht die Kuh am Schwanz. Sie dreht sich blitzartig um. Die Kinder bewerfen die Kuh mit leeren Plastikflaschen. Diese verliert die Orientierung, steht still. Die Augen dunkelbraun und sanft. Wieder wird sie am Schwanz gezogen. Sie geht auf das Kind los. Der Kleine rast davon, die Kuh hinterher. Das Kind weint kurz auf.
„Money“, sagt ein anderes. Der Junge klappert mit den Scherben.
Sie waren einmal in einem Kinderheim, am zweiten Tag sind sie weggelaufen.
Die Kuh wird am Schwanz gezogen, mit Plastikflaschen beworfen. Sie blickt sanft und geht auf ein anderes Kind los. Stoppt. Schaut einen geradeaus an.
„Ich kann doch nichts dafür“, sage ich.
Zwei Männer mit Holzhämmern kommen, stellen sich drohend über die Kinder. Sie rutschen zur Seite. Kaum sind die Männer weg, trottet die Kuh heran. Sie wird am Schwanz gezogen.
Die Frauenstimme singsangt ihre Wiederholungen. Vielleicht kommt der Zug um 1.30 Uhr. Vielleicht auch nicht. Ein Zug fährt auf diesem Gleis 3 ein. Nicht der nach Agra, sondern der Schnellzug von Howrah nach Delhi. Politiker benutzen diesen Zug. Wenn er länger als fünf Minuten hält, ist die Strecke noch immer nicht geräumt. Leibwächter steigen aus. Eines der Kinder legt sich auf den Boden und schläft ein. Ein anderes pisst auf die Puffer des Zuges. „Schwarze Katzen“, heissen die Leibwächter. Der Zug hat einen „A.C. Sleeper Car“.
Ein etwa 12-jähriger Junge kommt mit seinem Schuhputzkasten, stellt ihn ab, die Kinder, die nicht gerade tief schlafen, versammeln sich um ihn. Er verteilt Rupien. Ein Kind muss Red und Antwort stehen. Ein anderes bereitet sein Tuch neben dem schon Schlafenden aus. Ein drittes, viertes legt sich dazu. Ein poliokrankes Kind rutscht heran, legt seinen Kopf behutsam auf die Hüfte eines anderen, hält sein zuckendes Bein.
„Auch das ist Indien“, sagt ein Reisender und erzählt von einer Meute von Languren-Affen, die unter sich ein Polio-Kind aufgenommen hatten und es fütterten.
Ein anderer Halbwüchsiger mit einer Jutetasche und Chefmanieren taucht auf. Pfeift kurz, greift in die Tasche und zieht Aluschalen mit Essensresten hervor, die Reisende fortgeworfen haben. Ein Kind bietet mir eine Schale an. Und deutet auf die ausgehende Zigarette. Zwei Scheiben Toastbrot werden herumgereicht. Nach und nach schlafen die Kinder ein. Eines steckt seinen Daumen in den Mund. Ein anderes wischt erst noch die Essensreste mit seinem Besen in eine Ecke. Dann sind die Kinder ein schlafendes Knäuel, über das eines wacht.
„Madam, Madam.“
Der Zug fährt um 02.45 von Gleis 6.
Bereits schlafen auch die Hunde und die Kühe. Vielleicht auch nicht.

Bahnhofskinder
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