Vom Marktdampfer und anderen Entscheidungen


In “Solothurner Märet”,
ISBN-13: 978-3-9522950-0-7 | ISBN-10: 3-9522950-0-0
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Sumpfgrün? Klatschmohnrot? Oder Fliederlila – logisch – im Mai? Will sie den Vormittag mit dem erstaunten Blick auf einen Ozeandampfer beenden? Oder sanft, mit einem Hauch Süden in der Nase, ausklingen lassen? Will sie hier in der angenommenen Mitte des momentan lieblichen, ansonsten nicht unfreundlichen Kontinentaleuropas an ferne Häfen glauben oder an das Lodern des Mimosenbaums über fahlgelber Erde?
Süden oder ferne Häfen? Was bleibt ist auch an diesem Marktsamstag das Fernweh, das vor beiden Stadttoren wartet. Oder hat es sich bereits zwischen den Ständen mit Kohl, Käse und Küchenkräutern auf Samtpfoten ins Herz geschlichen – und keiner hats wieder mal frühzeitig genug gemerkt?
Wie dem auch sei. Ihr ist nach Ozeandampfer und fremdem Land am Ende des Vormittags. Und sie beginnt in der nach Süden riechenden Ecke des Marktes und kauft dicke Oliven mit Knoblauch und eingelegte Tomaten. Und irgendwann heute abend wird er den Satz sagen, den er immer sagt, wenn Tomaten und Oliven im Mund einen Wohlklang ergeben: „So könnte ich überleben.“ Und aus einer Ecke wird’s wummern: „Wann fahren wir wieder in den Süden?“ „Bald, sehr bald“, wird sie dann sagen, wie jedes Mal.
Beim Blumenstand stösst sie eine der Vasen mit Akeleisträussen um, die auf dem Boden stehen. Das macht sie öfters. Ohne Absicht natürlich. Die Marktfahrerin verzeiht ihr auch dieses Mal. Indigo mit wenig Weiss beigemischt. Sie kauft ihr einen Strauss ab.
Beim nächsten Stand zwei Auberginen, deren Farbe nach dem Ende der Nacht riecht: So dunkel liegen die Sanddünen rechts und links vom steinigen Tal in der Wüste – ganz melancholische Eleganz. Bis, ja, bis plötzlich Sonnenlicht das Tal überflutet, und sie sich so glücklich anfühlt wie selten. Vielleicht erzählt sie ihm heute, wenn sie das vor Olivenöl triefende Gemüse genüsslich mit etwas Brot aufgabeln und in den Mund schieben, von der Wüste. Vielleicht auch nicht. Vor ihr beim Käsestand eine alte Dame, die den Käse 100-Gramm-weise kauft: Appenzeller, Herrenkäse, Chaumes... Tagesrationen bis zum nächsten Markttag? Sie selber fragt dann aus einer plötzlichen Laune heraus nach Taleggio, nimmt ein grosses Stück. Milchweiss wie frühe Dämmerung über der Poebene, mit Sumpfgrün und Klatschmohnrot. Jemand grüsst. Sie hat mal wieder keine Ahnung, wie dieser Mann, zu dem diese sympathischen Augen gehören, heisst. Sie nickt. Und wünscht sich jünger und schöner und dann eigentlich doch überhaupt nicht. „Erinnerst du dich noch an die Zugfahrt durch das verschneite Piemont?“, wird sie ihn heute abend fragen. Er reagiert unwirsch, mag diese Frage- und Antwortspiele nicht: „Nein.“ „Doch, doch“, bleibt sie gewohnt hartnäckig, „als wir mit der frischen Ciabatta das ganze Abteil verkrümelten und Taleggio dazu assen, ich schnitt ihn mit dem Taschenmesser der Kantonspolizei in Stücke?“ „Ach so, natürlich...“, wird er antworten. Erleichtert. „Ich bin keine Fallenstellerin“, denkt sie auf einmal traurig. Und geht – an der verlockenden Vitrine mit Sandwichs und frischen Berlinern vorbei – direkt zum Stand mit den Rosen unter dem Turm mit der Uhr. Bauernrosen. Kräftig, wie unbeugsam, trotzdem lustig – mit Farben wie hinter den Augenlidern nach der Liebe: Lachs mit einem Kranz aus Bordeaux, Hellgelb mit Orange, Rottöne wie auf einer Seidentapete über die Goldfische schwimmen. Doch sie kauft eine dunkelrote Rose, zum Küssen samtig. Und lächelt. Auch dann noch, als sie sieht, dass das Olivenbrot am Stand schräg gegenüber bereits ausverkauft ist. Sie wird einfach die Rose in eine Flasche mit Wasser stellen. Wortlos.
Jetzt kauft sie ein Bauernbrot. Und ein Töpfchen mit Basilikum. Hofft wie jedes Jahr, dass es keinen Frosteinbruch mehr geben wird. Trotz dieser Knoblauchknollen im störrischem Schafwollweiss, die ja gar nichts mit dem Winter und dem Frühling zu tun haben. Objektiv gesehen. Sie lacht. Und bleibt bei zwei älteren Frauen stehen, die frühe Fliederäste verkaufen: weiss, purpur, lila. Sie entscheidet sich für einen Ast in Lila, obwohl sie weiss, in zwei Tagen ist der Traum hinüber und die Blüten krümeln auf die Tischplatte.
Fernes dumpfes Aufbruchsignal. Sie blickt auf. Da: Der Ozeandampfer! Er schiebt seine weissglänzende, mit zartblauen Schatten versehene Breitseite behäbig und überwältigend, alles gewöhnliche Licht abwehrend noch vor dem Stadttor vorbei, eingerahmt rechts und links von den Flanken der Altstadt. Das Schiff der Kathedrale. So kommen Ozeandampfer an einem Markttag in ein Binnenland. Riechen nach Knoblauch und Akelei und nach Fernweh. Man muss sich entscheiden. Oder auch nicht. Wozu denn auch: Nächsten Samstag beginnt man beim Marktgang mit dem Ozeandampfer im Rücken. Und schnuppert sich südlich hinaus. Zum Beispiel mit Sumpfgrün und Klatschmohnrot. Vorerst.


Angelica Schorre


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