Betrufer

Erschienen im „Wanderland Schweiz“

Goldener Ring über der Alp

Ernst Herger und Ambros Arnold, Landwirte und Betrufer
Betrufer
Ist das Tagewerk getan, ruft Ernst Herger den Betruf über die Alp Wannelen im Kanton Uri. Damit ruft er Schutz und Segen für Mensch und Tier herbei. Für Ernst Herger und Ambros Arnold, seinem Stellvertreter, ist der Alpsegen kein hohl gewordenes Brauchtum – im Gegenteil. 

Wannelenalp, 1624 m, über dem Schächental im Kanton Uri, direkt am schönen Wanderweg Klausenpass – Brunnital gelegen. Die Sonne brennt, Kühe suchen sich schwänzeschlagend ihren Weg zwischen den Hütten hindurch, auf der gegenüberliegenden Talseite ballen sich Wolken dramatisch zusammen. „Auf der Alp sind wir Gefahren ausgesetzt. Steinschlag, Unwetter können Mensch und Vieh jederzeit gefährden. Da brauchen wir Schutz und Kraft von oben“, sagt Ernst Herger, „das ist jetzt keine Heuchelei von mir.“ Diesen Schutz ruft er Abend für Abend nach getaner Arbeit herbei – seit über 40 Jahren. „Gelernt“ hat der 64-Jährige diesen Betruf oder Alpsegen nicht, sondern ihn – von klein auf im Ohr – vom Grossvater von Ambros Arnold übernommen. Kann Ernst Herger den Alpsegen einmal nicht rufen, vertritt ihn Ambros Arnold, der auch viele Jahre lang für diesen verantwortlich war. „Ich habe den Betruf als Kind so oft gehört, dann kennt man bald einmal den Text“, so Ambros Arnold. Früher habe man sich durch den Betruf von Alp zu Alp gute Nacht gesagt, je nach Wetter konnte man ihn auf der anderen Talseite hören. Heute rufen im Schächental und auf dem Urnerboden noch etwa sechs, sieben Älpler den Segen. Vor ein paar Jahrzehnten war er noch in der ganzen deutschsprachigen, katholischen Schweiz verbreitet. Für beide Landwirte ist der Betruf keine leere Tradition, sondern ein wirkliches Abendgebet.

Der goldene Ring

Jedes Alpgebiet hatte früher seinen eigenen Betruf. Allen gemeinsam ist die Anrufung von Gottvater, Mutter Gottes, Christus und dem Heiligen Geist. Aber auch die verschiedenen Heiligen, die zum Beispiel für den Schutz des Viehs (Antonius) oder für die Sennen und Hirten (Wendelin) zuständig sind, machen einen wichtigen Teil des Alpsegens aus. Gerufen wird in einem dialektgefärbten Deutsch, die Melodie mutet archaisch an und ist in ihrer Einfachheit eindrücklich und berührend.

Der Betruf ist bis zurück ins 14. Jahrhundert belegt. Seine Wurzeln reichen sicher in die vorchristliche Zeit zurück. Denn der Glauben an seine (wort)magische Wirkung ist noch heute zu spüren. So heisst es im Betruf von Wannelen: „Hier auf der Alp steht ein goldener Ring / Darin wohnt die liäb Müättr Gottes / Mit ihrem härzallerliäbschte Chind.

Das Vieh zurückrufen
Ernst Herger: „Die Klanggrenze bildet den Ring, in dem der Segen wirksam ist. Wie weit man den Ruf hört, so weit sollte der Segen reichen.“ Und er fügt an: „Nun, vielleicht auch ein bisschen über den Ring hinaus…“ Wenn er heiser sei, sei auch der Ring etwas kleiner, meint er augenzwinkernd. Aber es sei nicht entscheidend, ob schön oder weniger schön gerufen werde – Hauptsache, es wird gerufen. Mit dem Betruf soll auch das Vieh in den Ring zurückgelockt werden. Denn als erstes wendet sich der Ruf an das Vieh, das jeden Schritt in Gottes Namen tun und ihn loben soll: „Hoch selle si loba / All Schritt, all Tritt, i Gott’s Namä loba / Hier auf der Alp steht ein goldener Ring…“ Damit der Segen möglichst weit reicht, wird durch einen Trichter, die Volle, gerufen. Der 53-jährige Ambros Arnold erinnert daran, dass die Kirchenglocken eine ähnliche Funktion wie der Betruf haben: „Soweit der Glockenklang reicht, fühlen sich die Menschen beschützt.“ Deswegen seien die Glocken in hohen Türmen angebracht, damit sie möglichst weit klingen. Nicht immer können sich die beiden Betrufer auf ihre Stimmen verlassen. Denn sie werden auch zu Beerdigungen geholt, wenn ein Älpler gestorben ist. „Wenn man den Toten gekannt hatte… Dann kann einem die Stimme schon versagen“, so Erich Herger.

Nicht nur Männersache
Wird sich dieser Brauch hier auf Wannelenalp erhalten? „Wir wissen es nicht.“ Beide erinnern sich, dass sie früher als Kinder während des Betrufs still zu sein hatten. Das waren sie aber ganz von selbst – zu eindrücklich waren Stimme und Gestalt des Grossvaters, der den Segen rief. Die Mädchen der Älplerfamilie gegenüber bei Heidmanegg würden den Alpsegen aber auch singen. Eine reine Männersache sei er längst nicht mehr.
Abgesehen von ein paar Wochen auf dem Urnerboden verbringen Ernst Herger – der aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr mitarbeiten kann, aber jeden Abend den Alpsegen ruft – und Ambros Arnold zusammen mit drei weiteren Älplern den Sommer mit ihrem Vieh auf Wannelen. „Da gibt es schon Meinungsverschiedenheiten“, räumt Ernst Herger ein. Aber so richtig „beim Grind“ genommen, hätten sie sich noch nicht. Sie seien auch auf gegenseitige Hilfe angewiesen – bei einem Unfall zum Beispiel oder wenn sich ein Rind verstiegen hätte. „Ich bin sicher, dass der Alpsegen hilft, den Frieden zu bewahren“, so Ernst Herger. „Ich hoffe, das bleibt noch lange so“, sagt Ambros Arnold. 


Zum Hören:
„Bättruef, Alpsegen, Swiss Alpine Prayer“, CD, Zytglogge und Radio DRS, 2006.


Text und Bilder: Angelica Schorre
Betrufer

Betruf von Wannelen

Hoch selle si loba,
All Schritt, all Tritt, i Gott’s Namä loba.
Hier auf dieser Alp steht ein goldener Ring,
Darin wohnt die liäb Müättr Gottes
Mit ihrem härzallerliäbschte Chind.
Ave Maria, Ave Maria, Jesus Chrischt!
Das walt Gott und dr heilig Sankt Antoni,
Das walt Gott und dr heilig Sankt Wendelin,
Der wälle isers Veh behüäten und bewahren auf dieser Alp!
Das walt Gott und dr heilig Sankt Johannes,
Das walt Gott und dr heilig Sankt Michael,
Dem emphele is mr alli mit Lib und Seel.
Das walt Gott und dr heilig Sankt Josef,
Der wäll is zu Hilf und zum Troscht cho `f iserem Todbett.
Das walt Gott und die allerhochheiligst Drifaltichkeit Gottes,
Gott Vater, Gott Sohn, Gott heiliger Geist.
Löschet all Fir und Liächt,
Auf dass euch Gott und Maria wohl behüät!
Gelobt sei Jesus Chrischt!
Copyright Angelica Schorre[br] Source: http:// https://www.schorre.ch/de/text/reportagen/_betrufer.htm