Ich dachte oft mit Tränen an Sligo

Erschienen in der „Berner Zeitung“

An seinen Stränden rollen die Brecher des Atlantiks aus. Seine Landschaft kann sich nur schwer zwischen lieblich und dramatisch entscheiden. Doch das County Sligo mit seinem gleichnamigen lebhaften Städtchen ist vor allem eines: das Sehnsuchtsland des Dichters William Butler Yeats.

Es gibt zwei, wenn man will drei «Sachen», um die kommt man im County Sligo, im Nordwesten Irlands, nicht herum: William Butler Yeats, Ben Bulben und Michael Quirke. Yeats ist ein Dichter (1865 bis 1939). Ben Bulben ist ein Berg. Michael Quirke ist Holzschnitzer und Metzger a. D. im Städtchen Sligo. Beginnen wir mit ihm.
Vor dem Schaufenster in der Wine Street hört man die Knochensäge kreischen. Michael Quirke sägt Windbruchholz für seine Figuren zurecht. Hauptsächlich Heldinnen und Göttinnen, die aus der keltischen Mythologie bekannt sind, aber auch aus anderen Kulturen stammen können. «Es ist doch überall auf der Welt das Gleiche», meint er, klemmt das Holz in den Schraubstock, fängt energisch mit Schnitzen und Erzählen an. Nein, er sei sicher, dass Maeve, diese tapfere Kämpferin, nicht im Hügelgrab auf dem Berg Knocknarea westlich von Sligo begraben liege. Eine starke Frau, diese Maeve. Wahrscheinlich hat man sie im Berg begraben. Sie kannte Tränke, die ihre Feinde wahnsinnig, und solche, die ihre Freunde mutig machten. Quirke erzählt vom Wald, der Irland einst bedeckte, und nun zu 9 Prozent wieder aufgeforstet sei. Schnitzen, das mache er seit 30 Jahren, hätte früher seine Skulpturen zwischen Fleisch und Wurst ausgestellt. «Ich habe sie gut verkauft.» Seit 14 Jahren lebt er vom Schnitzen. Ja, man solle ruhig fragen. «Die Iren lieben es, gefragt zu werden. Und sie werden auf alles eine Antwort finden», er lacht herzhaft, «passen Sie auf, wenn Sie nach dem Weg fragen.» Mit einer einzigen Bewegung schnitzt er die Umrisse eines Berges in ein Holzplättchen. Den kenne man doch? Ein guter Orientierungspunkt, der Ben Bulben.
Ben Bulben
Schlafplatz der Elfen
Der Ben Bulben ist ein entschieden eigenartiger Berg. Etwas über 500 Meter hoch, steil abfallend, oben flach, mal mit Regenbogen verziert, mal unglaublich grün leuchtend, mal geheimnisvoll umwölkt. Die Elfen schlafen nachts auf seinem Kopf. Und der mythische Krieger Diarmid soll auf ihm gestorben sein, weil der Held Fionn MacCumhaill sich weigerte, seine Verletzung zu heilen, da Diarmid einmal mit Fionns Frau durchgebrannt war. Und die Moral von der Geschichte? Die County Sligo ist voller Geschichten.
«Under Ben Bulben´s head / In Drumcliff churchyard Yeats is laid...», schrieb William Butler Yeats in einem Gedicht auf sein eigenes Grab. Die letzte Zeile steht auf dem einfachen Grabstein auf dem Friedhof von Drumcliff - ein Dörfchen nördlich von Sligo zu Füssen des Ben Bulben: «Reiter, wirf einen kühlen Blick aufs Leben, auf den Tod, und reite vorüber», so übersetzte der Schriftsteller Heinrich Böll die Inschrift. William Butler Yeats, der 1923 den Nobelpreis für Literatur erhielt, ist in Sligo aufgewachsen - sein Grossvater war in Drumcliff Vikar. «Nach Jahren, als ich zehn oder zwölf Jahre alt war und in London wohnte, dachte ich oft mit Tränen an Sligo, und als ich zu dichten begann, hoffte ich dort mein Publikum zu finden», schreibt er in seiner Biografie.

Landpartie
Und das County Sligo würdigt seinen Dichter. Der «Yeats Country Drive» - drei ausgeschilderte Routen um Sligo - ist wirklich empfehlenswert und lässt als Tagesausflüge Zeit für Entdeckungen und Spaziergänge. Die nördliche Strecke etwa führt am Lisadell House vorbei, wo die Freiheitskämpferin Constance Markievicz lebte, die später die erste Arbeitsministerin von Irland wurde. Wunderschöne Strände sind der Back Strand, wo 1588 drei Schiffe der Armada sanken, und der Bunduff Strand beim Küstenzipfel Mullaghmore Head. Wenn man im Dörfchen Grange vorbeikommt, sollte man unbedingt dem John Lang´s Pub bei der Kirche einen Besuch abstatten - eine wunderbare Mischung aus Tante-Emma-Laden und Pub. Der Glencar-Wasserfall auf dem Rückweg nach Sligo beeindruckt einen Eidgenossen nicht unbedingt, aber Yeats hat ihn im Gedicht «The stolen child» erwähnt: «Where the wandering water gushes / From the hills above Glen-car...»
Auf der Südwestroute kommen alle «Steinzeitler» auf ihre Kosten: Carrowmore ist nach Carnac die bedeutendste Fundstelle megalithischer Gräber in Europa. Über 60 Steinkreise und Dolmen soll es hier geben - viele sind durch Sandabbau zerstört worden. Wer will, kann die Fahrt über die Scenic Route nach Strandhill unterbrechen und in 90 Minuten Fussmarsch das vermeintliche Grab der Maeve auf dem Knocknarea besuchen.
Wers gerne beschaulich und gemütlich hat, sollte den Logh Gill nicht um- sondern befahren: Der gutmütige Schiffbus «Wild Rose» fährt von Parkes Castle und Sligo aus. Kapitän George MacGoldrick sitzt auf einem leeren Guinnessfass, bewegt ab und zu das Steuer, blättert in der Zeitung, legt diese plötz- lich weg und rezitiert Gedichte. Von Yeats natürlich. Und das an und für sich unscheinbare Inselchen Inishfree bekommt durch die Verse einen ganz eigenen Zauber und Glanz: «I will arise and go now, and go to Innisfree... And I shall have some peace there, for peace comes dropping slow...»


Angelica Schorre

Copyright Angelica Schorre[br] Source: http:// https://www.schorre.ch/de/text/reportagen/_ich_dachte_oft_mit_traenen_an_sligo.htm