Im «Packeis» unter heisser Sonne

Erschienen in der „Berner Zeitung“

Wer bei dem Wort Wüste lediglich an ein endloses Sandmeer denkt, täuscht sich entschieden. Die Weisse Wüste in Ägypten ist ein gewaltiger Skulpturenpark, in dem man vom Albinokaninchen bis zur Henry-Moore-Plastik alles finden kann.
Vielleicht wars der eingeschlafene Arm. Vielleicht wars ein Traumfetzen. Etwas weckt einen in der Nacht - diese absolute Stille kanns nicht gewesen sein.
Hinter einem liegen 600 km Fahrt von Kairo durch die Oasen Baharija und Farafra zu diesem Schlafplatz in der Wüste, nur ein Etappenziel auf dem Weg zur Weissen Wüste. Die Beduinen, versierte Fahrer und Köche, sind verstummt und mit ihnen ihre Musik, ihr Gesang zwischen Heiterkeit und Melancholie, die eine Sehnsucht weckt, die sich selber nicht ernst nimmt.
Plötzlich hellwach krabbelt man aus dem Zelt, löscht ein paar hundert Meter neben dem Camp die Taschenlampe. Und hält beim Anblick des Nachthimmels den Atem an. Kälte scheint aus dem All auf die Erde zu fallen, reisst ein paar Sternschnuppen mit. Der Orion, der grosse Jäger, liegt bequem am Horizont, Kassiopeia, die Plejaden. Der Sternenhimmel ist ein fadenscheiniger, dunkler Stoff, durch den das Licht scheint, ein von unregelmässigen Nadelstichen perforiertes Papier. Noch ein einziges Loch mehr, und die Dunkelheit muss zerreissen, Helligkeit sich über die Erde ausschütten wie die Kälte.

Kristalle in der Wüste
Etwas klirrt. Und das ist nicht die Kälte. Unwirklich. Es sind die Kristallscherben unter den Füssen: Kristallberge nennt man die Gegend hier. Zu Recht, wie man am nächsten Tag sehen wird: Quarzbänder, aufgebrochene Drusen mit rhombischen Kristallen aus Kalkspat, milchig-bräunlich glänzend im Sonnenlicht. Dieser Weite angepasst: quadratmetergross. Wie Schokoladenkrümel überziehen Steinchen aus Eisen, oft in Form einer Muschel oder kleiner Stifte, die Partien aus Sand und Kalkschotter. Auch Elefanten stehen herum und bewachen mit Kristallen verzierte Gesteinshaufen. Schon seit ein paar tausend Jahren. Und Henry Moore hat dort eine tonnenschwere Schöne liegen gelassen, die sich in der Wärme des Tages räkelt. Allerspätestens hier gibt man das festgefahrene Bild im Kopf auf, dass die Wüste nur aus Sand besteht, der sich zu Dünen formiert durch die Gegend schiebt. Diese Wüste ist ein Skulpturenpark, an dessen Monumenten sich die Fantasie entweder bricht oder aber Flügel bekommt.

Spuren in der Wüste
Unterwegs zur 5000 Quadratkilometer grossen Weissen Wüste. Lange Distanzen werden mit den Landrovern fern jeder Piste bewältigt, kürzere zu Fuss.
Und da kommt man um die Frage nach den Spuren nicht herum. Ein Sturm genügt, um die Spuren im Sand zu verwehen. Spuren im Kies und im Kreidestaub werden bleiben. Wüste kann nicht aufgeforstet werden. Und hier läuft man über eine riesige Kalksteinplatte, bemerkt erst nach einigen Metern, dass der Boden übersät von versteinerten Fischen ist. Was für eine Katastrophe ist über diesen prähistorischen «Fischmarkt» vor 120 Millionen Jahren hereingebrochen? Das Gewicht eines Autos würde diese alten Zeugen einer anderen Zeit für immer vernichten.
Spuren. Nicht nur die eigenen im Sand. Da erkennt man das zierliche Trippeln der Maus, dort die Spuren der Krähe, die ihre Landung in hüpfenden Kreisen abschliesst. Die Pfotenschnur des hochbeinigen Wüstenfuchses. Die grössere - eines Wolfes? Die unvollendeten Fragezeichen der Schlangenschleichwege. Dort ein emsiger Pillendreher. Eine Eintagsfliege. Was macht eine Eintagsfliege in der Wüste? Keine Antwort. Über allem diese Stille, die fremd und fern schmeckt.
Baisers in der Wüste
Schneeweisse Kalkfetzen künden die Nähe zur Weissen Wüste an. Um sie fälteln sich kunstvoll Wellen aus Sand. Doch zuerst wird eine Gedenkstätte aus Riesen-Baisers durchquert, die ewigkeitsgeile Zuckerbäcker errichtet haben müssen. Baiser an Baiser, so weit das Auge reicht. Wie in einem Zen-Garten ist der Sand um sie zu ruhigen Spiralen gerecht. Bewacht wird das Ganze von einer mächtigen «Kreuzfahrerburg», ein zu ihr gehöriger Adler aus Stein versinkt dezent im pudrigen Abendlicht. Und nicht einmal an die zierliche, auf dem Rücken liegende Mondsichel kann man sein bisschen Verstand festklammern - in ein paar Minuten ertrinkt sie hinterm Horizont. Man gibts auf, gegen das permanente Gefühl der Unwirklichkeit ankämpfen zu wollen. Lässt sie zu, als geheimnisvollen Bestandteil von Erfahrung. Ausgesprochen realistisch allerdings ist der Versuch, gebrauchtes Toilettenpapier gegen den Wind anzünden zu wollen. Mit etwas Übung klappts. Auch die Zigarettenkippen sammelt man ein. Spuren in dieser gigantischen Landschaft zu hinterlassen - das wäre mehr als Vermessenheit, denn in diesem Klima verrottet nichts.

«Packeis» in der Wüste
Dann auf einmal: Packeis. Ja. Gletscherabbrüche - nicht auf dem Meer treibend, son- dern auf Sand. Firnlandschaft, keine abgerundete, abgeschliffene. Schneeweisse Zeugenberge, Zeugenzwerge, Zeugenriesen durch Wasser aus Meer- und Seekreide geformt. Seit Jahrtausenden sind nun Wind und Sand die Bildhauer, die, soweit das Auge reicht, Albinokaninchen, Riesenpilze, Indianergesichter, Ringeldrachen, alte Weise geformt haben und unter riesigen Tischen Schatten spenden. Da nützt kein Zwicken in den Arm. Der weisse Kalk blendet in der Sonne, leuchtet rosa und orange im auftauchenden Mondlicht, bläulich im Licht der Sterne. Abstraktion, die oft von der ornamentalen Wut irgendwelcher Stukkateure eingeholt wird.
Weisse Wüste
Picasso war hier und Cocteau. Kinder beim Lehmwerfen. Und der Physiker Blaise Pascal, der sagte, dass der Mensch machtlos gegen die Gnade Gottes ist. Denn der Himmel über diesem schneeweissen, unermesslichen Figurenpark ist weit. Unermesslich weit. Der Mensch ist machtlos gegen diese Weite der Wüste. Eine Weite, die den Menschen gerne an jede Form von Gnade glauben lässt. Hilflos, unwesentlich und trotzdem geborgen. Ein paar Tage später sitzt man alleine auf einem Berg, bereits auf dem Rückweg zur Oase Baharija. Das Licht ist nicht mehr klar, sondern sandgeschwängert. Monumental die riesigen Gebirgsformationen, die jederzeit bereit sind, in diesem lehmfarbenen Zwielicht zu versinken. Doch diese Riesenschildkröten, dieses den Kopf schräg haltende Dromedar - locker haben in ihnen 100 Längsschiffe gotischer Kathedralen Platz - blicken auf die am Horizont sich ausbreitende Ebene, sind die Wächter der Weissen Wüste, hinter ihnen eine Phalanx von Fabelwesen, denen gegenüber man nicht einmal die Grösse einer Ameise erreicht.

Wächter in der Wüste
Stumm betrachtet man den Dreck unter den Fingernägeln. Plötzlich meint man, diese steinernen Riesen in tiefen Tönen miteinander grummeln zu hören. Und in dieser Bewegungslosigkeit spürt man, dass sich ihre Klauen kilometertief tief im Sand bewegen. Man könnte dieser einen Riesenschildkröte die tiefsten Geheimnisse seines Lebens anvertrauen. Selbst die, die man noch gar nicht kennt. Doch das ist so unwichtig. Es ist, was ist.
Diese riesigen Felstiere bewachen den Eingang zur Weissen Wüste. Zu einem unendlichen Garten aus Fels und Sand. Zu einem geheimnisvollen Skulpturenpark. «Die Wüste ist der Garten Allahs, aus dem er alles überflüssige menschliche Leben verbannt hat, damit es einen Ort gibt, wo er in Frieden wandeln kann», sagt ein arabisches Sprichwort. Dort darf der Mensch nicht stören. •


Angelica Schorre


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