Träumen auf dem Ganges, dem schmutzigen, dem heiligen

Erschienen in der „Berner Zeitung“

Bad in der Menge, Bad im Ganges. Die grossen Städte Dehli und Agra sind mit ihren bunten Bazaren und eleganten Bauwerken bereits Erinnerung. Ziel ist Varanasi, die Stadt, in der man keine Angst vor dem Tod zu haben braucht.

Pilger auf dem Ganges in Varanasi

Varanasi

copyright A. Schorre 2005

«Schlupp» machen die Ruder beim Eintauchen. «Schlopp» beim Auftauchen. Die Sonne brennt auf das Stoffdach des Bootes, die Tagetes-Girlanden schaukeln leise, ruhig fliesst der Ganges, der heilige Fluss. Am Steuer steht der 60-jährige Gorah, zündet sich ab und zu eine Bidi an und blickt in die hellblaugrüne Weite. An den Rudern sitzt der 15-jährige Lan Kush, sein Neffe. Lan Kush bedeutet «Sonne Gottes».
Noch etwa 15 Kilometer bis Varanasi, das früher Banaras oder Benares hiess. Die Stadt, in der der Tod willkommen ist. Lan Kush, der wie sein Onkel zur Kaste der Ruderer gehört, taucht seinen Becher in den Ganges, trinkt einen tiefen Schluck. Eine Wasserbüffelfamilie nimmt ein Bad.
Kontrastprogramm zu den letzten Tagen in Delhi und Agra. Delhi, wo das Wort «relax» auf den Rotlichtern der Ampeln leicht zynisch wirkt: Gewusel, Gehupe, Geschrei; mitten drin auf einer Verkehrsinsel eine heilige Kuh. Menschen schubsen im Bazar. Es duftet nach den frischen Blüten der Opfergaben und stinkt nach dem altem Fett der Strassenküchen. Dem Sikh-Tempel im alten Teil Delhis ist eine Armenküche angegliedert, in der Nähe des Roten Forts gibt es ein Spital für Vögel. Gegensätze werden nicht mehr als solche empfunden.
Natürlich kennt man von Bildern den Taj Mahal in Agra, dieses Grabmal für eine geliebte Frau. Annäherung an den Gebäudekomplex mit batteriebetriebenen Autos, strenge Eingangskontrolle: Handy, Zigaretten, Müsliriegel, Taschenmesser müssen abgegeben werden. 20 000 Besucher täglich. Muss das sein, denkt man. Doch dann: Harmonie, Schlichtheit, Anmut. Das Grabmal schwebt - wie von einem Zauberer vergessen - über dem Flussbett, spiegelt sich in den Bassins, im Glanz seiner Marmorböden. Vergessen sind die Menschen und die Sorge ums Handy. Das hier ist Poesie, Magie, Traum. Sein Erbauer, Shah Jahan (1627-1665), soll die letzten Jahre seines Lebens als Gefangener seines Sohnes im Fort verbracht haben - mit Blick auf den Taj Mahal.
Ein Windhauch. Gorah und Lan Kush verständigen sich wortlos, hissen das Segel. Das Boot gewinnt an Fahrt. Ein Holzstoss brennt am Ufer. Männer dirigieren mit Tüchern den Wind. Ein Leichnam wird verbrannt. Ein paar Meter weiter zwitschern Vögel übers Wasser.
Varanasi. Eine der heiligsten Stätten der Hindus, vor über 2000 Jahren am Ganges gebaut, der nur an dieser Stelle für einmal nach Norden fliesst, in Richtung Himalaya, wo der Gott Shiva wohnt. Nüchterne Annäherung: 240 Millionen Liter Abwasser fliessen jeden Tag in den Fluss. Abfälle, Kadaver werden hineingeschmissen. «Der heilige Fluss Ganges ist für eine Milliarde Gläubige eine Gottheit. Ihr geht es nicht gut», macht die Kampagne für einen sauberen Ganges aufmerksam. Jeden Tag nehmen an den 64 Ghats, das sind die Zugänge zum Fluss, 7000 bis 10 000 Menschen ihr rituelles Bad. Beten, meditieren, sprechen Mantras. Viele Menschen, die spüren, dass sie bald sterben werden, reisen nach Varanasi, warten in einem der vielen Sterbehäuser auf den Tod. Denn: Wird man hier am Ganges verbrannt, ist man vom Rad der Wiedergeburt befreit.
Holz für die Verbrennungen wird gehackt, 15 000 bis 30 000 jährlich, 8 Millionen Tonnen werden dafür gebraucht. Ein Holzstoss modert noch am Manikarnika-Ghat, süsslicher Rauch schwebt in der Luft. Eine Bahre mit einem verstorbenen alten Mann wird gebracht - über und über mit Blüten bedeckt. Zum letzten Mal wird er den fünf Elementen ausgesetzt: im Wasser des Ganges gewaschen, auf die Erde gelegt, dem Feuer übergeben, wird zu Rauch und Luft. Mungos wieseln durch die Holzstösse, Handys klingeln, ein paar Meter weiter springen Kinder lachend in den Fluss. Hinter der Uferzone brodelt die Stadt mit ihren etwa drei Millionen Einwohnern. Für die Verbrennung sorgen Unberührbare. An einem Punkt der Verbrennung wird der Schädel gespalten - jetzt ist der Mensch erst wirklich tot. Shiva flüstert ihm zu, dass seine Seele frei ist, nun über den Fluss gebracht wird - das «Ferryboat»-Mantra. Diese Stadt in ihrer gelassenen Heiterkeit kennt keine Angst vor dem Tod. Warten Gorah und Lan Kush? •

Das Taj Mahal spiegelt sich im Bassin

Taj Spiegel

copyright A.Schorre 2005


Kinderdorf Kiran/Varanasi
Ein Sonnenstrahl für behinderte Kinder

Die Mädchen kichern über ihren Näharbeiten. Draussen spielen ein paar Kinder Kricket - trotz der Prothesen und Schienen, die sie tragen. Einem kleinen Mädchen wird in der orthopädischen Werkstatt gerade eine Gehhilfe angepasst - von zwei Männern an Krücken. Sie waren auch einst Schüler hier im Kinderdorf Kiran bei Varanasi.

Das Kinderdorf ist eine Betreuungs- und Beratungsstelle für Kinder mit körperlichen und leichten geistigen Behinderungen. Gegründet wurde es 1990 von der St. Gallerin Judith Keller, die seit über 30 Jahren in Indien arbeitet, früher hauptsächlich für Leprakranke. 230 Kinder besuchen heute die Schule - vom Kindergarten bis zur 5. Klasse, aber auch nicht Behinderte sind mit dabei. Etwa 50 Kinder leben ständig im Kinderdorf Kiran. Die anderen werden täglich mit dem Schulbus geholt und gebracht. In den Werkstätten werden staatlich anerkannte Kurse angeboten wie Nähen, Siebdruck, Gärtnern. Physiotherapie und Elternberatungsstelle gehören auch zum Angebot. Der Aussendienst betreut entfernter wohnende Familien, sucht mit den Eltern Wege, die Kinder in die Gesellschaft einzugliedern, sorgt für Gehhilfen, Rollstühle und Operationen. Judith Keller: «Wir wollen den Familien helfen, dass ihr Kind einmal auf eigenen Beinen stehen kann.» Und das ist nicht nur wortwörtlich gemeint. «Kiran» lebt von Spenden; «Ki-ran» bedeutet Sonnenstrahl. sch
Info: Kiran-Freundeskreis, hautle@bistum-stgallen.ch, 071 227 33 61.

Königstiger
Warten auf den Tiger

Ranthambhor Nationalpark. Fertig! Schluss! Nach drei Stunden am Morgen und drei Stunden am Abend, sehr viel Staub und 1624 Schlaglöcher älter beschliesst man, für immer und ewig Königstiger nicht zu mögen. Und die Touristin, die so nebenbei erzählt, dass sie gestern vier Tiger gesehen hat, mag man auch nicht. Nicht einen Zentimeter von stattlichen 330 Zentimetern Tigerlänge hat man gesehen. Lediglich ein paar Pfotenabdrücke und ein paar, durchaus imposante, Kratzspuren an Bäumen. Dafür Pfauen, die malerisch auf den Ruinen der Jagdpavillons ihren Warnruf «miauen», wunderschöne Vögel, Wildschweine und Grosswild, das anmutig im Dickicht verschwindet. In dem 10 000 km2 grossen Naturschutzgebiet soll es etwa 15 Tiger geben. Aber was solls. Ausserdem: Passt so ein gestreiftes, irgendwie durchgestyltes Tier überhaupt in diese Landschaft? Nein, beschliesst man tigerlich beleidigt und in bester Fast-Food-Touristenmanier.
Da ist es kein Fehler, sich das Schild am Parkausgang übersetzen zu lassen: «Lieber Tourist, wenn du mich nicht gesehen hast, sei nicht traurig: Ich habe dich gesehen.» Das weckt den Ehrgeiz. Also: am nächsten Morgen nochmals in den Park.
Es riecht nach Blüten, die Sonne ist noch nicht aufgegangen. Das alte Fort auf dem Hügel schaut wachsam übers Land. Tiger sind nachtaktiv - vielleicht hat man Glück? Eine Stunde vergeht. Plötzlich kehrt der Jeepfahrer um, nimmt eine andere Piste. Angespannt versucht man, der Dämmerung einen Tiger abzugewinnen. Da stoppt das Auto. «Tiger», flüstert der Aufseher und zeigt auf eine malerische Wiese. Man erkennt nur zwei Pfauen. Doch dann, etwa 40 Meter vom Jeep entfernt, etwas Oranges, Gestreiftes - perfekt getarnt. Der Königstiger blickt mässig interessiert und gähnt. Steht auf und trottet im sportlichen Schlenkergang davon. Erst jetzt merkt man, dass man die ganze Zeit den Atem angehalten hat. Er ist sehr schön, der Königstiger. Und man ist sehr stolz, ihn gesehen zu haben. Natürlich mag man Tiger.

Beat Niederer: «Indien braucht einen nachhaltigen Tourismus»
Interview mit Reiseleiter Beat Niederer


Beat Niederer, Sie leben seit 14 Jahren in Indien, in Varanasi/Benares. Warum Indien?

Beat Niederer: 1987 wollte ich nach Australien, kam auf diesem Weg hier vorbei. Ich habe sofort gewusst: Das ist der Ort, wo ich längere Zeit leben kann. Es war wie ein Heimkommen. Ich fand Zugang zu einer Spiritualität - was für mich in der Schweiz überhaupt kein Thema war.

Ist die Gefahr nicht gross, dass man in dieser fremden Kultur untergeht?

Wenn man die Brücke in den Westen abbricht, sich eine Scheinwelt aufbaut, besteht diese Gefahr. Aussteigen ist die eine Sache, Einsteigen die andere. Ich habe in diesen 14 Jahren schöne, aber auch harte Zeiten erlebt. Und: Keine Drogen. Ich bin Vegetarier, rauche und trinke nicht. Drogen würden einem noch mehr den Boden unter den Füssen wegziehen, als es die Faszination und Kraft dieser Kultur eh schon tun.

Wie verdienen Sie denn Ihren Lebensunterhalt?

Ich bin seit 8 Jahren Reiseleiter für Globotrek. Dieses Unternehmen kann ich unterstützen, weil es zum Beispiel mit lokalen Partnern arbeitet.

Was für einen Tourismus braucht das Land?

Einen nachhaltigen Tourismus. Weder Hippies, noch Neo-Buddhisten. Es braucht Touristen, die bereit sind, für Infrastruktur zu zahlen; bereit sind, 2 oder 5 Dollar hinzulegen, um ein geschütztes Denkmal wie den Taj Mahal zu besichtigen. Es braucht den gebildeten Reisenden, der seine Schweizer Massstäbe auf die Seite legen und sich auf Indien mit all seinen Extremen einlassen kann, der Zeit hat.

Was bedrückt Sie in Bezug auf Indien?

Indien produziert immer mehr anorganische Erzeugnisse. Eine Art Umweltbewusstsein gibt es nur rudimentär, ist in den Schulen kein Thema. Vom gepressten Baumblatt zum Plastikteller, von dem Ein-Weg-Tonschälchen für Tee zum Plastikbecher wars ein kurzer Sprung. Leider sind die Plastikerzeugnisse nicht abbaubar, geraten in alle Wasserkanäle. Selbst die heiligen Kühe fressen Plastik. Und die Plas-tiksäcke sind nicht ein zweites Mal brauchbar, da sie zu dünn sind. Ein weiterer Punkt ist der zunehmende Verkehr. Die Strassen sind heute schon hoffnungslos überlastet. Und ein Auto ist für die indische Mittelklasse zunehmend attraktiv. Ein grosses Thema. Die indische Mittelklasse muss Verantwortung für das übernehmen, was sie konsumiert. Ein Abfallentsorgungskonzept ist dringend nötig.

Und jetzt: das Schöne?

4000 Jahre indische Zivilisation und Tradition, Spiritualität, leben auch heute weiter. Der Hinduismus ist eine gelebte Religion. Auch im 21. Jahrhundert. Er wird auch ohne Probleme seinen Weg ins nächste Jahrhundert finden. Das liegt in meinen Augen an der ganzheitlichen Auffassung, auf der holistischen Erklärung der Welt mit ihren Mythen und Ritualen.

Sind Sie Hindu?

Nein! Aber jemand, der dafür offen ist, die Aspekte, die Wege der in uns wie unerweckten Seite zu erforschen. Das ist für jeden Menschen anders. Es ist wichtig, dass man nicht fremdbestimmt, von der Umwelt oder Religion bevormundet handelt. •

Beat Niederer, 41, in Biel aufgewachsen, Offsetdrucker, Studium an der Banaras Hindu University. Er arbeitet als Übersetzer, Stadt- und Reiseführer in Varanasi/Benares.

Tipps & Infos
Reisezeit: Beste Reisezeit für den Norden Indiens ist von Ende Oktober bis Mitte März. Obwohl es im Januar recht kühl sein kann, sind diese Monate der heissen Zeit von Anfang April bis Ende Juni und der Regenzeit von Ende Juni bis Ende September vorzuziehen.

Anbieter: Der Berner Reiseveranstalter Globotrek bietet Reisen ins nördliche Indien an. Info: www.globotrek.ch, gk@globotrek.ch, Tel.031 313 00 10.


Angelica Schorre


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